Theorie und Philosophie

Erster Teil : Erläuterung wichtiger Begriffe

Tai Chi Chuan, Qi, Yi, und Jin-Kraft

Zweiter Teil : Theorie und Philosophie im Tai Chi Chuan

  • Tai Chi als eine der 5 Säulen in der Traditionellen Chinesischen Medizin
  • Bewegte Meditation
  • Die daoistische Philosophie im Tai Chi
  • Eine Bewegungskunst der Yin(yīn)- und Yang (yáng)-Philosophie

Erster Teil : Der Name „Tai Chi Chuan“, seine Herkunft und Bedeutung

Tai bedeutet „größte, höchste“, Chi bedeutet „Ende, Grenze, Polarität“. Tai Chi bedeutet demnach die höchste Grenze, bzw. die höchste Polarität. Wo Yin (Ruhe) das höchste Maß erreicht hat, wandelt es sich in Yang (Bewegung), ebenso umgekehrt. Das ist die Bedeutung von Tai Chi im Sinne von Bewegungskunst. Chuan bedeutet „Faust, Faustkampf, Boxen“. Tai Chi Chuan ist also eine Bewegungskunst nach dem Yin- und Yang-Prinzip, sein Grundsatz ist fest im I Ging verwurzelt.

Das I Ging (Yijing) entstand ca. 3000 Jahre v. Chr. Es ist eine Sammlung von Strichzeichen (Hexagramme) mit zugeordneten Sprüchen. Die Hexagramme stammen aus der chinesischen Orakel-Praxis. Seit Jahrtausenden dient dies als Wahrsagung für wichtige Entscheidungen wie Vermählung, Hausbau usw. Die hier für verwendeten Sprüche stammen aus der früheren Ritual-Praxis. Der Begriff „Tai Chi“ kommt zwar nicht im I Ging selbst vor, doch das in I Ging enthaltene Yin- und Yang-Prinzip bildet die wichtigste Grundlage für Tai Chi Chuan. Darüber hinaus beeinflusst das Yin- und Yang-Prinzip fast alle Bereiche der chinesischen Kultur wie Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Malerei, Kalligraphie, Architektur, Gartenkunst, Kochkunst usw.

Zwischen dem 3. und 4. Jahrhundert v. Chr., in dem Werk „Dà zōngshī (Der große, ehrwürdige Meister)“ von Zhuangzi , wird der Begriff „Tai Chi“ zum ersten Mal erwähnt. (<ctext.org> *1) Später, im 2. Jahrhundert v. Chr., kommt es u.a. im „Xici“ vor. Dies gehört zu den sogenannten 10 Kommentaren, sie wurden von einer Gruppe Konfuzianer verfasst. Diese 10 Texte dienen als Anhänge des I Ging. Von da an bekommt das I Ging eine philosophische Deutung. Doch die Hexagramme und Sprüche werden weiter im chinesischen Kultur-Raum bis heute zur Wahrsagung benutzt.

In der Song Dynastie (960-1279) bringt der bekannte Neokonfuzianer Zhou Dunyi (1017-1073) in einem seiner Werke „Die Erläuterung des Tai Chi Diagramms“ den Begriff „Tai Chi“ in enge Verbindung zur Yin- und Yang-Philosophie. Die Tai Chi – Abhandlung von Wang Zhongyue, einem legendären Tai Chi-Meister (17/18. Jh.), steht wiederum unter dem Einfluss von Zhou Dunyi. Diese Tai Chi-Abhandlung wird zunächst mündlich tradiert und erst am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts von verschiedenen Tai Chi-Meistern in Textform verfasst. Ab hier entsteht der Name „Tai Chi Chuan“ als Bezeichnung für die heute bekannte chinesische Bewegungskunst, die schon Jahrhunderte alt ist und somit eine lange Tradition hinter sich hat.

Tai Chi und Qi Gong sind Übungen, um Qi zu kultivieren. Über Qi im Wu Stil Tai Chi sagte Meister Ma Yueliang: „Wir trainieren Taijiquan grundsätzlich wegen des Qi. Beim ganzen Training geht es nur um das Qi. Alle Bewegungen im Taiji kommen aus dem Wusu (Kampfkunst) und man nutzt diese Bewegungen, um das Qi zu trainieren.“. (Lilun, Heft 4, Seite 11. *2)

Qi

Das Wort „Qi“ bedeutet Luft, Atem, Energie. In Kombination mit einem anderen Schriftzeichen ergeben sich viele Bedeutungen, wie z.B. Qi Gong. „Gong“ bedeutet Arbeit. Qi Gong meint also Energie-Arbeit. In diesem Zusammenhang sind u.a. zwei weitere Begriffe: „Weiqi“, wobei „Wei“ Abwehr heißt, also Abwehrenergie d.h. Immunkraft gemeint ist und „Qizhi“, in der wörtlichen Bedeutung „Qi-Qualität“, was „Charakter, Temperament“ bedeutet. Diese Beispiele helfen, die Vielschichtigkeit der Bedeutung von Qi zu begreifen.

Im Tai Chi und in der chinesischen Medizin bedeutet „Qi“ Lebensenergie. Vergleicht man den Körper des Menschen mit einem Fernsehapparat, dann ist Qi die Elektrizität. Ohne Strom läuft der Apparat nicht, ohne Qi kann der Körper sich nicht bewegen. Kein Lebewesen kann ohne Qi existieren, es wäre dann tote Materie. Der Kosmos ist gefüllt von Qi und die Möglichkeiten, Qi aufzunehmen, sind vielfältig. Manche Mineralien vermögen Qi zu speichern und abzugeben. Bei ihnen fehlt aber die Fähigkeit, durch Transformationsprozesse wie etwa Nahrungsaufnahme, Qi selbst zu erzeugen. Nach der Lehre der TCM fließt Qi entlang der Meridiane in dem Menschenkörper. Wenn der Qi-Fluss im Körper harmonisch fließt und sich gleichmäßig verteilt, ist ein Mensch gesund. Wenn er außer Balance gerät, entstehen Krankheiten. Arbeit mit dem Qi erfordert eine große Konzentration, philosophisch ausgedrückt: Achtsamkeit. Dies wird in dem Begriff „Yi“ besonders hervorgehoben.

Yi

Yi bedeutet „die Vorstellungskraft, die Absicht, die Achtsamkeit, die Aufmerksamkeit“.

Versteht man es, in der Tai Chi-Übung mit Yi das Qi zu leiten, um den Körper zu aktivieren, wirkt die Bewegung agil, der Mensch zeigt sich vital. Yi vermag es, Qi zu leiten. Man soll Yi ganz natürlich anwenden, ohne es zu forcieren. Wenn man das Ziel verbissen verfolgt, wird man das Qi zur Stagnation führen. Durch erfolgreiche Zusammenarbeit von Yi und Qi kann Jin-Kraft hervorgerufen werden.

Jin-Kraft

Das Wort „Jin“ als Adjektiv bedeutet „stark“, als Substantiv heiß es „Energie, Schwung, Begeisterung, Stoßkraft“.

Durch Entspannung und Konzentration kann Qi, die Lebensenergie, aktiviert und gesammelt werden. Geleitet mit Yi, der Vorstellungskraft, kann Qi sich zur Jin-Kraft entfalten. Jin-Kraft geht von den Füßen aus, über die Taille, bis in die Arme und Hände. Dabei ist es notwendig, dass alle Körperteile miteinander verbunden sind und dass der Körper durchlässig ist. Jin-Kraft ist eine elastische Kraft, sie fühlt sich sanft an. Im Gegensatz zur Jin-Kraft wird die Muskelkraft Li durch Muskel-Kontraktion hervorgerufen, sie bleibt steif und hart. (vgl. Taijiquan, Konzept und Prinzipien. Seite 126-148.*3)

Für die Entwicklung von Jin-Kraft gibt es verschiedene Übungen, damit gewinnt man Nutzen im Hinblick auf den gesundheitlichen Aspekt. Will man Jin-Kraft in der Kampfkunst einsetzen, ist dies allerdings mit langem harten Trainieren verbunden.

Zweiter Teil : Theorie und Philosophie im Tai Chi Chuan

Tai Chi als eine der 5 Säulen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM)

Die 5 Säulen in der TCM sind Medikamente (Kräuter, tierische Substanzen, Mineralien), Akupunktur, Akupressur, Diätetik (Ernährungswissenschaft), Tai Chi und Qi Gong. Letzteres wird als Therapieangebot in China verwendet. Tai Chi wird als „Kultivierung des Qi“ praktiziert, darunter wird das Harmonisieren, Aktivieren und Sammeln des Qi, der Lebensenergie des Übenden, verstanden. TCM ist eine ganzheitliche Medizin, so ist auch Tai Chi als meditative Bewegung ganzheitlich. Körper, Seele und Geist gehören zusammen, sie trennen sich nicht voneinander, können nicht isoliert betrachtet werden.

Nach der TCM-Theorie sind der harmonische Qi-Fluss und die gleichmäßige Verteilung von Qi die wichtigsten Faktoren für die menschliche Gesundheit. Wenn der Energiefluss ausgeglichen ist, ist ein Mensch gesund, wenn er ins Ungleichgewicht gerät, d.h. Störungen entstehen, folgen Krankheiten. Der zentrale Punkt der TCM ist die Vorstellung, dass Qi im Körper entlang der unsichtbaren Leitbahnen, den Meridianen, fließt. Sie durchziehen den gesamten Menschenkörper und das Qi zirkuliert entlang dieses Netzwerks. Alle Körperteile werden dadurch mit Qi versorgt. Es gibt insgesamt 12 Paar Hauptmeridiane und 8 Sonder-Meridiane, darüber hinaus sind noch viele kleine Abzweigungen vorhanden.

Die 12 Paar Hauptmeridiane zusammen bilden das Grundgerüst des Leitbahn-Systems. Jeder von diesen Meridianen besitzt Yin- oder Yang-Eigenschaft. Sie wird nach jeweiligen Organen bzw. deren Funktionskreis benannt, mit denen sie in Beziehung steht. Ein Yin- und ein Yang-Hauptmeridian, die miteinander verbunden sind, bilden ein Paar. Störungen des einen Meridian können sich auf den Partner auswirken. Die gesamten menschlichen Emotionen sind diesen Hauptmeridianen zugeordnet, wie z.B. Trauer dem Lungen-Meridian, Wut dem Leber-Meridian usw. In China vergleicht man diese Hauptmeridiane mit großen Flüssen, dort findet der reguläre Kreislauf des Qi statt, wie Wasser im Fluss.

Die acht Sondermeridiane sind vereinzelt. Sie sind nicht an bestimmte Organe bzw. Funktionskreise geknüpft und treten nicht symmetrisch auf. Sie haben zwar nicht die Eigenschaft wie Flüsse, aber sie verbinden sich mit den Hauptmeridianen wie Kanäle. Dabei besitzen sie ausgleichende Funktion und dienen als Reservoire. Diese Sondermeridiane nehmen nicht teil am regulären Kreislauf des Qi, können aber übriges Qi aufnehmen, bewahren und bei Bedarf wieder verteilen. Zwei unter ihnen besitzen übergeordnete Stellungen. Der Steuerungmeridian, der auf der Körperrückseite verläuft, verbindet die gesamte Yang-Meridianen. Wobei der Aufnahmemeridian, der auf der Körpervorderseite verläuft, die sämtliche Yin- Meridianen verbindet.

Qi zirkuliert in Hauptleitbahnen wie Wasser im Fluss. Innerhalb von 24 Stunden durchfließt das Qi als Maximalzeit wie die Flut bei den Gezeiten jeden Haupt-meridian einmal. Bevor China das westliche Uhrzeit-System übernahm, wurde der Tag in China in 12 altchinesische Stunden eingeteilt und jede Stunde wurde mit einem chinesischen Zeichen benannt. Diese 12 Zeichen entstammen den „Zwölf Erdzweige(n)“, deren Ursprung das altchinesische Zeitrechnung-System ist. Innerhalb jeder altchinesischen Stunde wird ein Hauptmeridian je einmal von einem maximalem Qi-Fluss durchflossen: ein Organuhr-System im wahren Sinne des Wortes. Ein Beispiel hierfür: Morgens zwischen 3 und 5 Uhr – dies wird in Altchina yín (寅) genannt – hat der Lungen-Meridian (Yin) seine Maximalzeit. Danach folgt sein Partner, der Dickdarm-Meridian (Yang), zwischen 5 und 7 Uhr. Dieser Zeitabschnitt trägt den Namen mǎo (卯). In der Reihe folgen Magen-, Milz-, Herz-, Dünndarm-, Blasen-, Nieren-, Herzbeutel-, Drei Erwärmer-, Gallenblase- und zum Schluss der Leber-Meridian. Sie knüpfen jeweils aneinander an und bilden den in sich geschlossenen „Große(n)Kreislauf“. Diese 12 Paar Meridiane verteilen sich symmetrisch im Körper, 6 Paare rechts und 6 Paare links. Sechs von den Yang-Meridianen verlaufen vom Kopf, über den Rumpf, entlang der Beine und enden an den Füßen. Die anderen sechs Yang-Meridiane starten an den Fingern, gehen über die Arme bis an den Kopf. Die Hälfte der 12 Yin-Meridiane fängt an den Füßen an und geht bis in den Brustkorb, die andere Hälfte verläuft vom Brustkorb bis zu den Händen.

An den Hauptmeridianen sind die meisten Akupunktur-Punkte verteilt. Es sind etwas über 365 Punkte. An diesen Punkten sind die Meridiane mit der Körperoberfläche verbunden. Durch Einwirkungen von außen kann hier das Qi beeinflusst werden, etwa bei der Akupunktur. In der Tai Chi Übung werden mehrere solcher Punkte benutzt, wie z.B. „Yong-Quan“, „Sprudelnde Quelle“, N1, der erste Punkt des Nieren-Meridian. Er liegt in einer Mulde im vorderen Drittel der Fußsohle auf der Mittellinie. In der TCM Theorie wirkt dieser Punkt gegen Angstzustand, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Vergesslichkeit, und vieles mehr. Man nutzt diesen Punkt in den Tai Chi Übungen, um Bodenkontakt aufzunehmen und somit die Verwurzelung zu entwickeln. Darüber hinaus wird hier ankommende Kraft in den Boden abgeleitet und das Qi steigt hier aus der Erde nach oben. Das Gegenstück für N1 ist hier der Punkt Hb 8 „Laogong“ ,“der Arbeiter-Palast“, der achte Punkt des Herzbeutel- Meridians. Er liegt in der Mitte des Handtellers, zwischen der 3. und 4. Fingerspitze bei geballter Faust. Dieser Punkt wirkt gegen Herzbeschwerden, Unruhe, Hitzschlag, usw. Im Qi Gong ist dieser Punkt u.a. für die Qi-Abgabe zuständig. Diese zwei Punkte, „N 1“ und „Hb 8“ korrespondieren miteinander in den Bewegungen, sie bilden das erste Paar der „Dreivereinigungen“ im Tai Chi.

Sehr wichtig in Tai Chi ist natürlich auch der Punkt D 20 „Baihui“, „Hunderte Zusammenkünfte“, der 20. Punkt des Steuerung-Meridians. Er liegt auf dem Scheitel in der Mitte zwischen den Ohren. Dieser gilt als Verbindungspunkt nach oben bzw. zum Himmel. In diesem Fall ist sein Partner der N 1 „Sprudelnde Quelle“, als Verbindung nach unten bzw. zur Erde. Hinzu kommt der Punkt R 6 „Qihai“, „Meer des Qi“. Er liegt 1,5 Cun (ein Cun entspricht einer Daumenbreite) unter dem Nabel. Im Bereich hinter und unter diesem Punkt Richtung Innenkörper befindet sich unser „Unteres Dantien“, unser Qi Zentrum. Es ist wichtig, unsere Aufmerksamkeit während der Übung immer wieder dorthin zu führen, um unser Qi zu sammeln. Es gibt noch weitere Punkte, die in der Tai Chi Übung benutzt werden, allesamt besitzen sie wirksame Heilkräfte.

In der Sichtweise der TCM ist der Mensch in den Qi-Kreislauf (Energiekreislauf) von Himmel (Yang) und Erde (Yin) eingebunden, was eine wahre Natur-Verbundenheit verdeutlicht. Jedes Individuum ist aber nach der TCM auch ein kleiner Kosmos. Es besitzt die Fähigkeit, sich selbst zu regenerieren. Die Entspannung und die sanfte Bewegungen in der Tai Chi Übung beeinflussen nachhaltig positiv unseren Qi-Kreislauf, sie führen zur Harmonie des Qi und zu seelischer Ausgeglichenheit. Damit wird nach der Lehre der TCM die Selbstheilungskraft (Immunkraft) gestärkt. Zusammenfassend kann man sagen: Tai Chi ist eine Bewegungstherapie, die zur psychischen und physischen Gesundheit führt.

Tai Chi als „Bewegte Meditation“

Geschichtlich belegt kommt der Buddhismus ca. 1. Jahrhundert vor Chr. aus Indien nach China. Er nimmt Einflüsse aus der Tradition des Daoismus und des Konfuzianismus auf und entwickelt sich dort weiter. Im 5. Jahrhundert entsteht in China die Zen-Meditation, diese wird im 12. Jahrhundert nach Japan gebracht und wird sehr geschätzt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts findet sie in der westlichen Welt Anerkennung und verbreitet sich allmählich. Es gibt verschiedene Schulen und Zweige, hier folgen wir der Lehre des 6. Patriarchen Huinneng (638-713), die bis heute noch einen tiefen Einfluss auf die Zen-Praxis ausübt.

Als kleines Kind besitzt man angeborene Eigenarten, Fähigkeiten und Neigungen, das ist ganz natürlich. Durch vielfältige Lebenserfahrungen kann man sich aber mit der Zeit immer weiter von sich selbst entfernen. Zen-Meditation zeigt den Weg, wie man wieder zu sich selbst finden kann. Es ist wichtig, während der Meditation klar und unbeirrt wahrzunehmen und zu fühlen. Man soll sich ganz auf das „Hier und Jetzt“ konzentrieren, dabei sämtliche intellektuellen oder emotionalen Deutungen vermeiden. Nach langem Meditieren ist es möglich, dass man sich selbst wieder entdeckt. Das Selbstkennen führt zu einem wachen Geist. Ein erwachter Mensch wirkt ruhig, ausgeglichen und zufrieden. Gleichzeitig ist er fröhlich und lässt es nicht an einem aktiven Dasein fehlen. Nach dem Zen-Glauben gelangt man so wieder zu der eigenen Natur. Huinneng nennt es die „Buddha-Natur“. (<wikipedia.org> *4.) Er lehrt uns, dass der erwachte Geist bereits in jedem existiert. Deshalb ist der erwachte Geist nicht etwas, worum man sich bemühen muss. Die Herausforderung liegt lediglich darin, ihn wiederzufinden, dann wird man ein erwachter Mensch. Nach Huinnengs Lehre kann man sogar während der alltäglichen Aktivitäten meditieren, d.h. die Achtsamkeit üben, es muss weder in einem Tempel stattfinden noch beim Sitzen sein.

Tai Chi ist eine bewegte Meditation nach dem Motto: „In der Ruhe ist die Bewegung, in der Bewegung ist die Ruhe.“ Übende können im Bewegungsfluss den meditativen Zustand erreichen. Für die meisten Leute ist es weniger schwierig, sich auf konkrete Bewegungen zu konzentrieren, als nur zu sitzen und die Gedanken vorbeiziehen zu lassen. Bei ausdauerndem Tai Chi Üben gelangt man durch bewusste Bewegungen zur Wiedererkennung des richtigen Körpergefühls. Man analysiert die eigenen Bewegungen so lange, bis man sich selbst erkennt. Auf diese Art und Weise führt Tai Chi als bewegte Meditation zur Achtsamkeit, zu gesteigerter Wahrnehmung und letztlich zu unserer wahren Natur. Manchmal werden Tai Chi und Meditation parallel praktiziert, um die Wahrnehmung zu verfeinern.

Der Ursprung von Tai Chi ist Kampfkunst. Sich selbst zu kennen ist wichtig in der Kampfkunst; erst wenn man sich selbst kennt, kann man den Gegner kennen und richtig einschätzen. Dies ist ein bewährter Ansatz in der Kampfkunst, aber das gilt ebenfalls für Alltagsprobleme. Alle Sachverhalte und Mitmenschen um uns sind im übertragenen Sinne unsere Partner, Begleiter oder aber auch Gegner. Wir müssen sie kennenlernen, um mit ihnen fertig zu werden. Mit Tai Chi als bewegter Meditation wird unser Wahrnehmungsvermögen erweitert. Die Wahrnehmung ist aber auch unser Frühwarnsystem. Wir spüren und korrigieren Probleme, bevor sie unüberwindbar werden. Tai Chi kann als bewegte Meditation für Stress-prävention und -reduktion eine wirksame Methode werden. Sie vermag uns zu helfen, rechtzeitig zu reagieren, bevor es zu spät ist.

Die daoistische Philosophie im Tai Chi

Die Tai Chi Philosophie beruht u.a. auf der daoistischen Philosophie. Laozi (6. Jh. v. Chr.) und Zhuangzi (3. Jh. v. Chr.) sind die zwei Hauptvertreter des Daoismus. Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus zusammen bilden die drei Haupt-richtungen der chinesischen Gedankenwelt, sie beeinflussen sich gegenseitig.

Folgende Aussagen von Laozi werden als Grundsätze für Tai Chi angesehen: „Das Weicheste der Welt herrscht über das Härteste.“ Nach Kommentar von Wang Bi (daoistischer Mystiker, wichtigste chinesischer Kommentator der Daodejing , 3. Jahrhundert) ist hier das „Weicheste“ Wasser und Luft gemeint. (Gesamte Werke der chinesische Philosophie *5) Ein beliebtes Beispiel dafür ist, mit der Zeit wird Felsen durch Wasser abgetragen. Das Wasser ist weich, doch es überwältigt den Felsen, der hart ist.

Sehr wichtig im Tai Chi ist auch das Wuwei (Loslassen) von Loazi. Im „Daodejing“ steht : „Deshalb handeln die Erleuchteten nach dem Prinzip des Wuwei,“ Nach Wang Bi bedeutet Wuwei hier „Der Natur folgen reicht aus, einmischen führt nur zum Misserfolg.“ (Gesamte Werke der C. P. *6). Nach der Lehre von Laozi und Zhaungzi sollen die Menschen sich der Natur anpassen, sich so wenig wie möglich einmischen, viel mehr dem „Dao (Weg)“ folgen.

Laozi sagte über „Dao“: „Ich kenne keinen Namen dafür, darum nenne ich es mit dem Wort Dao, …………., Dao folgt der Natur.“ (Gesamte Werke der C. P. *7). Der Begriff „Dao (Weg)“ bedeutet hier also „der Lauf der Dinge in der Natur“, den man respektieren soll.

Wuwei (Loslassen) heißt aber nicht nur untätig sein, man soll sich unter Umständen durch Einfühlung anpassen. Gegebenenfalls soll man beim Anpassen einen Nutzen für sich gewinnen. Ein bekanntes Beispiel vermag dies zu verdeutlichen: Ein guter Schwimmer wird nur mit der Richtung des Stromes schwimmen und nicht dagegen, weil er so schneller vorankommt und bessere Chancen hat, zum Ziel zu gelangen.

Wenn man „Wuwei“ im Tai Chi sucht, findet man u.a. eine passende Stelle bei den Tai Chi Klassikern: „Kleben, verbinden, anhaften, folgen. Ohne zu verlieren oder dagegenzuhalten.“ (Das Tai Chi-Klassiker Lesebuch, Seite 38. *8). Beim Pushhand (Partnerübung) folgt man der Bewegung des Partners, hält Kontakt, als würde man an ihm kleben, dabei vermeidet man, dagegen zu halten. Es handelt sich um ein fast selbstloses Nachgeben, nur so kann man dem Partner gut folgen, ohne dagegen zu halten. Dieses fast selbstlose Anpassen im Tai Chi ist eine Art von Loslassen. Wenn man angegriffen wird, muss man zuerst der Richtung der kommenden Kraft folgen, bis der Partner seine schwache Stelle zeigt. Dann bewahrt man die eigene Balance, nutzt die kommende Kraft und wirft den Partner aus seiner Bahn. Beim Gegenangriff soll man im Tai Chi (als innerre Kampfkunst) nicht „Li“, die durch Muskel-Kontraktion entstandene rohe Muskelkraft benutzen, denn sie ist hart, stattdessen wendet man „Jin-Kraft“ an, eine elastische Energie, die doch sehr mächtig sein kann. (vgl. Tijiquan, Konzepte und Prinzipien. Seite 204-207. *9)

In der Tai Chi Übung wird mit hochgradiger Konzentration geübt. Man fokussiert sich auf das „Hier und Jetzt“ in der bewussten Bewegung. Alle Bewegungen werden weich und fließend ausgeführt. Das Körperliche und das Seelische beeinflussen sich gegenseitig, somit kommen die Übenden zur Ruhe. Wenn man mit Ausdauer und Überzeugung übt, dabei im Einklang mit sich selbst und der Umgebung, kann sich der Weg zum Loslassen, zum Shenming (klarer Geist) öffnen. Doch der Weg ist das Ziel, alle Übenden genießen beim Trainieren den gesundheitlichen Effekt. Zum Schluss stellt man fest, dass das Weiche über das Harte siegt, ganz im Sinne von Laozi und Zhuangzi.

Eine Bewegungskunst aus der Yin- und Yang-Philosophie

Die Yin- und Yang-Philosophie durchdringt die chinesische Kulturwelt. Man kann die Eigenschaften von Yin und Yang als gegensätzlich bezeichnen, aber gleichzeitig ergänzen sie sich, sie sind untrennbar. Als erstes Beispiel: Tag ist Yang, Nacht ist Yin, ohne Nacht gibt es aber keinen Tag. Weitere Beispielpaare sind: Helligkeit und Dunkelheit, Wärme und Kälte, Hartes und Weiches usw. Das Tai Chi Sinnbild stellt einen Kreis dar, eine Hälfte in Schwarz und die andere in Weiß. Das schwarze Teil ist Yin und das weiße ist Yang. In dem weißen Teil gibt es aber einen schwarzen Punkt und umgekehrt. Das bedeutet: Yin enthält immer Yang und im Yang befindet sich immer Yin. Im Bild wird noch dargestellt, dass ein Teil zunimmt, wenn das andere abnimmt, das geschieht simultan. Yin und Yang bewegen sich in einem ständigen Kreislauf.

Wie oben schon dargelegt, bedeutet Tai Chi wörtlich „höchste Grenze“. Im Sinne der Bewegungskunst heißt das: Wenn die Bewegung (Yang) ihren höchsten Punkt erreicht hat, fängt die Ruhe (Yin) an und umgekehrt. Das Steigen ist Yang und das Sinken ist Yin, Bewegung nach vorne ist Yang und zurück ist es Yin, Öffnen ist Yang und Schließen ist Yin. In der Gewichtsverlagerung unterscheiden wir voll (Yang) und leer (Yin). Solche gegensätzlichen Paare im Tai Chi ergänzen und enthalten sich gegenseitig, sie schließen sich nicht aus. Alle Bewegungen im Tai Chi haben ihren Yin- und ihren Yang-Aspekt, dies muss man beachten um die Balance zu halten.

In den Tai Chi Klassikern steht: “Wenn es ein Oben gibt, gibt es ein Unten. Wenn es ein Vorne gibt, gibt es ein Hinten. Wenn es ein Links gibt, gibt es ein Rechts“ (Das Tai Chi-Klassiker Lesebuch, Seite 23. *10). Hier wird der Yin und Yang Aspekte der Tai Chi Bewegungen angesprochen. Bewegt man sich nach oben, darf man die Verbindung nach unten nicht vernachlässigen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kraftabgabe (nach oben: Yang) und die Verwurzelung (nach unten: Yin). Bewegt man sich zu weit nach oben bei der Kraftabgabe, kann man von der nach oben steigenden Kraft mitgerissen werden und dabei den Bodenkontakt verlieren, d.h. man entwurzelt sich selbst. Um das zu vermeiden, muss man bei „nach oben gehen“ weiter „sinken“. (vgl, Tai Chi für Einsteiger, Seite 27. *11) Das Steigen (Yang) und das Sinken (Yin) dürfen sich nicht voneinander trennen, sie müssen simultan geschehen, sonst geht das Gleichgewicht verloren. Es geht darum, den Yin und Yang wandelnden Kreislauf aufrecht zu erhalten.

Über Angriff und Neutralisieren schreibt Meister Wee Kee-Jin : „In Bogen zu neutralisieren ist Yin, in geraden Linien angreifen ist Yang. Wenn man also neutralisiert ohne anzugreifen, ist das Yin ohne Yang, was normalerweise darin endet, dass man in eine Ecke gedrängt und dann umgeworfen wird. Einen Angriff in eine Richtung fortzusetzen ohne einen Richtungswechsel, ist Yang ohne Yin, was meist dazu führt, dass man sich zu weit aus seinem Zentrum bewegt und leicht zurückgerollt oder herausgezogen wird. Auch in der geraden Linie sollte es deshalb einen Bogen geben, und umgekehrt.“ (Taijiquan, Wuwei, Seite 119. *12) Hier wird deutlich erklärt, dass das Yin und Yang Prinzip im Mittelpunkt steht, alle Bewegungen in Tai Chi, bzw, in der Partnerübung basieren darauf.

Der Kampfkunst-Aspekt von Tai Chi ist faszinierend. Doch sagte Meister Ma Yueliang: „An erster Stelle steht die Gesundheit, an zweiter dann die Selbst-Verteidigung.“ (Lilun, Heft 4, Seite 11. *13). Damit sind wir wieder beim Üben der langsamen Form, deren Bewegungen sanft, langsam und fließend sind. Gelingt es uns, dabei ruhig zu bleiben, wird der Qi-Fluss in unserem Körper immer harmonischer fließen. Allmählich kann die Qi-Blockade im Körper geebnet und beseitigt werden. In der TCM bedeuten solche Qi-Störungen Defizite (Yin) oder Überfülle (Yang) von Qi. Sie manifestieren sich oft in Form eines Unwohl-Gefühls, z.B. Enge- oder Spannungs-Gefühl, oder aber auch Schmerzen im Körper. Das Üben von Tai Chi führt zur Ausgeglichenheit von Qi im Menschenkörper, zur Durchlässigkeit. Mit ausdauerndem Üben dieser Bewegungskunst gelangt man zu einer besseren Gesundheit, ganz im Sinne der TCM.

Literaturangabe:

  • *1 https://ctext.org/pre-qin-and-han Search „ 太極”(Januar 2019)
  • *2 Lilun, Heft 4, Seite 11, Ma Yuliang, Herausgeber: Forum für Traditionelle Wu Tai Chi Chuan, Freya und Dr. Martin Bödicker, 2003.
  • *3 Taijiquan, Konzepte und Prinzipien. Seite 126-148, Rainer Landmann, Herausgeber: Institut für Bewegungswissenschaft, 2005.
  • *4 https://zh.wikipedia.org/wiki/惠能 Der Lehre der 6. Patriarchen Huinneng. (Januar 2019)
  • *5 Gesamte Werke der chinesischen Philosophie, 3. Band von 8 Bände, Seite 27, Kapitel 43, Laozi, Daodejing mit Kommentaren von Wang Bi (3. Jh.), Herausgeber: Zhonghua Verlag (Hongkong), 1978, 1. Auflage.
    https://zh.wikisource.org/wiki/道德經_(王弼本) (Januar 2019)
  • *6 Gesamte Werke der C. Philosophie, 3. Band, Seite 2, Kapitel 2.
  • *7 Gesamte Werke der C. Philosophie, 3. Band, Seite 14, Kapitel 25.
  • *8 Das Tai Chi-Klassiker Lesebuch, Seite 38, Dr. Martin Bödicker, 2013.
  • *9 Taijiquan, Konzepte und Prinzipien, Seite 204-207, Rainer Landmann, Herausgeber: Institut for Bewegungswissensschaft, 2005.
  • *10 Das Tai Chi-Klassiker Lesebuch, Seite 23, Dr. Martin Bödicker, 2013
  • *11 Taijiquamn für Einsteiger, Seite 27, Dr. M. Plötz. Herausgeber: F. Aichlseder, H. Oberlack, 2003.
  • *12 Taijiquan Wuwei, ein natürlicher Prozess, Seite 119, Wee Kee-Jin, Herausgeber: Taijiquan-Schule des Zentralen Gleichgewicht, 2005.
  • *13 Lilun, Heft 4, Seite 11, Ma Yuliang, Herausgeber: F. und M. Bödicker, 2003.

Weitere Literaturangaben (nach Erscheinungsjahr absteigend) :

  • dtv-Atlas Akupunktur, Prof. C. Hempen, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2014.
  • Innere Klassiker der Gelbe Kaiser, die Weisheit der Gesundheitserhaltung, Prof. Qu Limin, Lujiang Verlag (China) 2007.
  • Transfer des Taijiquan vom Osten in den Westen, Micahel Buss, Magisterarbeit, 2007.
  • Atas der Akupressur, Dr. B. Kolster und Dr. A. Waskowiak, Knaur Verlag, 2003.
  • Tuina, eine altchinesische manuelle Therapie neu entdeckt, Chaoyang Fan, J. Hummelsberge, G. Wilsperger, Irisiana Verlag, 1999.
  • Tui Na Schritt für Schritt, Maria Mercati, Urania Verlag, 1998.

Mannheim, Februar 2019.